Judenhass bis zum Schluss

Interview mit Bruno Beger

Am 24. August 1997 stimmte der damals 86-jährige SS-Kriegsverbrecher und Schöpfer der Tibetschau im Salzburger „Haus der Natur“ einem Interview zu, das ihm der ORF-Redakteur Gerald Lehner vorgeschlagen hatte.

Der Anthropologe, Kriegsverbrecher und frühere SS-Offizier BRUNO BEGER mit seinem Freund TENZIN GYATSO, dem dreizehnten DALAI LAMA. Bild: Archiv Beger.
Der Anthropologe, Kriegsverbrecher und frühere SS-Offizier BRUNO BEGER mit seinem Freund TENZIN GYATSO, dem dreizehnten DALAI LAMA. Bild: Archiv Beger.

Lehner: Kannten Sie Heinrich Harrer?

Beger: Ja, natürlich. Wir sind seit langem Duzfreunde. Zuletzt sahen wir uns im September 1994 in London; wir trafen gemeinsam den Dalai Lama. Unser erstes Treffen war 1952, gleich nach Harrers Rückkehr aus Tibet. Er besuchte mich in München, es war eines seiner ersten Treffen in Europa.

Lehner: Kennen Sie auch den Dalai Lama persönlich?

Beger:
Ja, ich habe ihn in den letzten Jahren mehrmals getroffen. Zuletzt eben in London gemeinsam mit Heinrich Harrer. Das war eine Einladung von ihm. Ich habe auch guten Kontakt zu seinem leiblichen Bruder Norbu; und zur Familie des 11. Dalai Lama, die im Exil in der Schweiz lebt.

Lehner: Kannte Heinrich Harrer auch Ernst Schäfer, den Leiter Ihrer Tibet-Expedition von 1938/39?

Beger: Ja. Harrer hat nach seiner Rückkehr aus Tibet einmal ein Buch über seine schönsten Tibet-Fotografien veröffentlicht. Allerdings stammen mehrere Bilder in diesem Harrer-Buch aus Beständen unserer Expedition. Dann gab es einen sehr groben Schriftwechsel zwischen Schäfer und Harrer, denn Schäfer billigte diese Vorgangsweise nicht. Er mochte Harrer nicht.

Lehner: Kannten Sie auch den gebürtigen Tiroler Peter Aufschnaiter, der mit Harrer von Nordindien nach Tibet marschierte?

Beger: Ja, Aufschnaiter schrieb mir schon aus Lhasa. Er berichtete, dass Harrer und er nur deswegen so freundlich aufgenommen worden seien, weil ich die Tibeter als Wissenschafter so beeindruckt hätte. Die deutsche Industrie hatte uns eine erstklassige Expeditionsapotheke mitgegeben, so dass ich in Tibet als Arzt arbeiten konnte.

Lehner: Hatten Sie Kontakt zu Himmler?

Beger: Nein, aber Ernst Schäfer. Wir hatten auch Empfehlungsschreiben der SS in Tibet dabei.

Lehner: Seit wann waren Sie SS-Mann?

Beger: Seit 1935. Ich bin heute in einem Alter, da brauche ich nichts zu verschweigen. Für uns war es eine Ehre damals.

Lehner: Wo waren Sie während des Krieges?

Beger: In Russland und später in Italien.

Lehner: Waren Sie als Spione gegen die Briten in Tibet?

Beger: Das ist später behauptet worden. Wir hatten keine Geheimaufträge sondern einzig und allein wissenschaftliche Interessen. Ich war immer nur ein fanatischer Wissenschafter. Mehr war da nicht.

Lehner: Was waren Ihre Ergebnisse?

Beger: Da waren einerseits 2.000 Gegenstände aus dem Alltag von Nomaden, die ich nach Europa gebracht habe. Andererseits habe ich mehr als 400 Tibeter anthropologisch vermessen und 1.000 Bilder angefertigt.

Lehner: Haben Sie später auch unter sowjetischen Kriegsgefangenen in Auschwitz nach möglichen Tibetern oder Zentralasiaten gesucht und diese vermessen?

Beger: Nein, das war keinesfalls ich. Wissen Sie, über uns wurde später viel Unsinn geschrieben. Und ein Journalist schreibt vom anderen ab.

Lehner: Was geschah mit Ihren Daten aus Tibet?

Beger: Ich habe das nie veröffentlicht.

Lehner: Warum nicht?

Beger: Nach dem Krieg hatte ich keine Zeit dazu. Meine Karriere an der Universität war zu Ende. Ich wurde Buchhersteller und Lektor und machte Schulbücher.

Am 4. Oktober 1997 schrieb Bruno Beger dem Journalisten Lehner einen ergänzenden Brief; seinen letzten. Beger behauptete, es sei ein „Fehlurteil“ gewesen, dem er 1970 zum Opfer gefallen sei, denn Rassenhass sei ihm schon immer fremd gewesen:

„Von einer Berufung gegen dieses Unrecht rieten mir in den Zeiten der Vergangenheitsbewältigungshysterie Frau und Kinder aus verschiedenen, nicht zuletzt auch aus finanziellen Gründen ab. Von den in Auschwitz geplanten Morden hatte ich erst nach meinen anthropometrischen Arbeiten an den Häftlingen erfahren. Ich habe diese damals mit all meinen Kräften zu verhindern gesucht. Ich habe deshalb auch nichts zu bereuen, nur zu bedauern und zu betrauern.“

Dem gegenüber kam 1970 das Frankfurter Landgericht zu einem anderen Ergebnis. Sonst wäre Bruno Beger nicht verurteilt worden. Erwähnenswert ist ein Brief an Lehner, in dem Beger über seinen speziellen Einsatz in Russland berichtete. Es gilt unter Historikern und Militär-Experten international längst als Binsenweisheit, dass der Angriffskrieg gegen die Sowjetunion von Beginn als Vernichtungsfeldzug konzipiert war. Er war schon in der Planung verbrecherisch und unterschied sich grundlegend von allen Gefechten und Schlachten, die sich deutsche Uniformierte mit britischen, französischen oder amerikanischen Gegnern im Westen, Süden oder Norden lieferten. Während dort noch großteils gemäß internationaler Vereinbarungen unter Soldaten gekämpft, getötet und abgeschlachtet wurde, fand in Polen und Russland der geplante Massen- und Völkermord statt; völlig ungeachtet militärischer Erfordernisse.

Vernichtungskrieg durch SS und „Wehrmacht“

Es ging darum, die östlichen Nachbarn Deutschlands für Hilfsdienste zugunsten der germanischen Rasse als Sklaven zu unterjochen, mittel- und langfristig auszurotten. Keineswegs nur die SS beteiligte sich in der Sowjetunion an Massakern unter Zivilisten. Auch die in der Bundesrepublik Deutschland und Österreich später von ihren Fans und Teilnehmern als „sauber“ hingestellte Wehrmacht wütete aufgrund eines Führerbefehls gegen Alte, Frauen, Kinder, Jugendliche und männliche Zivilisten; nicht nur gegen Rotarmisten und Partisanen. Und nicht nur SS-Leute, auch Angehörige von Deutscher Wehrmacht, speziellen Einsatzgruppen, Feldpolizei sowie ukrainischen, litauischen und rumänischen Faschisten ermordeten Hunderttausende Jüdinnen und Juden sowie Menschen, die unter Verdacht standen, für die kommunistische Partei und den sowjetischen NKWD tätig zu sein. Vor diesem Hintergrund sollte diese Verteidigungsschrift von Bruno Beger in seinem Brief an Gerald Lehner aus dem Jahr 1997 gelesen werden:

„Die in den letzten beiden Kriegsjahren von mir für den Völkerpsychologen Prof. Dr. L. F. Clauß, einer meiner Berliner Universitätslehrer, betriebene Frontforschung „Rassen im Kampf“ war eine Aktion, mit ich Clauß und seine jüdische Mitarbeiterin Frau Margarete Landè vor dem KZ retten wollte und auch rettete. Bei dieser Forschung ging es darum, durch eine an den verschiedenen Fronten angepasste psychologische Kriegsführung Kräfte und Blutopfer zu sparen.“

Beim „Sparen“ kann Beger nur die deutsche Seite gemeint haben. Von Hitler, Himmler und von vielen Kommandeuren der Wehrmacht waren Kräfte in Russland angewiesen, neben den Spuren der Panzerketten eine möglichst breite Blutspur zu hinterlassen und Menschen keinesfalls zu schonen, die Kommunisten oder Kommissare der KPDSU zu sein schienen. Hauptthema zwischen Beger und Lehner war 1997 neben Heinrich Harrer die Tibetschau im Salzburger „Haus der Natur“. Über die schrieb Beger in seinem Brief:

“Bei der Eröffnung der Tibetschau in Salzburg im Januar 1943 war Sven Hedin, der große Asienforscher aus Schweden, dabei. Der betagte Mann ließ sich einen Sessel bringen, setzte sich vor das große Diorama, das ich gestaltet hatte. Tränen rannen über seine Wangen, und er sagte: `Das ist mein Abschied von Tibet!` Haben Sie auch unseren Dokumentarfilm gesehen, der zwei Stunden lang als „Geheimnis Tibet“ auch im Jahr 1943 in Salzburg uraufgeführt worden ist? Nach dem Krieg musste er auf 90 Minuten gekürzt werden. Unter dem Namen „Lhasa Lo“ erhielt er die höchsten Prädikate.

Alles Gute für Sie und Ihre Studien, Ihr Bruno Beger.“

Streitereien alter SS-Männer

Dem bei Redaktionsschluss für Lehners Buch („Zwischen Hitler und Himalaya. Die Gedächtnislücken des Heinrich Harrer“) 95-jährigen Bruno Beger sprach der Autor seinen Dank aus für seine vergleichsweise offenen Schilderungen. Als Lehner den Bergsteiger Heinrich Harrer bei einem Interview in Hüttenberg 1997 auf die SS-Expedition von 1938/39 unter dem Zoologen Schäfer ansprach, wies Harrer jeden Zusammenhang und jede persönliche Bekanntschaft brüsk von sich. Er wies auch Hinweise auf seine guten Kontakte zu Bruno Beger vehement zurück. Lehner schrieb Harrer einige Wochen später noch einen Brief, wo er weitere Beweise vorlegte und neuerlich um Stellungnahme bat. Keine Antwort. Diese lieferte Harrer erst 2002 – und nur indirekt, ausweichend und auf einem völlig anderen Kanal. Es handelt sich um seine Autobiografie „Mein Leben“, wo sich die entsprechenden Passagen diffus lesen, wenn man nicht mit Hintergründen vertraut ist, die Harrer nicht erwähnt. Über fünf Jahrzehnte hatte er seinen Bestseller „Sieben Jahre in Tibet“ international vermarktet, ohne die SS-Expedition von 1938/39 zu erwähnen; auch nicht mit der verharmlosenden Bezeichnung „Schäfer-Expedition“, die von anderen Nationalsozialisten nach dem Krieg verwendet wurde.

In „Mein Leben“ berichtet Harrer 2002 über diese Expedition. Man erfährt lediglich, dass er Ernst Krause gekannt habe, der als Fotograf und Kameramann eingeteilt war. Weiters kein Wort von der SS. Er habe Krause nach seiner Rückkehr aus Tibet 1952 in München besucht. Harrer verliert wieder kein Wort über seinen Duzfreund Beger und Schäfers Zorn, wonach Harrer einige Fotos der SS-Expedition für ein eigenes Buch verwendet haben soll; als eigene Bilder und ohne Quellenangabe. Und das sind die dürren Angaben im Wortlaut, die der österreichische Nationalheld in seiner Autobiografie mitteilt, fünf Jahre nach Bekanntwerden seiner eigenen SS-Verstrickungen:

“Ich habe Ernst Schäfer nie persönlich kennengelernt, war aber in Lhasa öfter auf die Namen der fünf Teilnehmer seiner Expedition gestoßen. Sie hatte sich sehr beliebt gemacht. Mehrmals musste ich die Beipackzettel der vielen zurückgelassenen Medikamente übersetzen.“

Beger im Dalai-Lama-Business

Trotz vieler Bemühungen war es Lehner bis zu Harrers Tod im Jahr 2006 nicht möglich, von diesem eine Information über seine Kontakte zu Beger und Schäfer zu bekommen. Dass dessen Angaben in Zusammenhang mit Harrer und dem Dalai Lama stimmen, belegt unter anderem jenes Foto aus London vom 13. September 1994, das mit einer offiziellen Presse-Erklärung der tibetischen Exilregierung über mehr als zehn Jahre im Internet zu sehen war. Es zeigt nach Ansicht von Experten, wie zahnlos, naiv und selbstzerstörerisch tibetische Exilpolitik sein kann. Noch immer wird vom Dalai Lama und seiner Exilregierung in Dharamsala nicht erkannt, wie verhängnisvoll dieses Foto auf der internationalen Bühne wirkte. Die Affäre schien auch der tibetischen Bürokratie egal zu sein. Längst hatte sich die internationale Presse auf das Foto eingeschossen; nicht gerade zum Vorteil der Exiltibeter. Lehner hatte das Bild im Spätsommer 1997 beim Surfen im Web durch Zufall entdeckt. Im Zusammenhang mit Harrer und Bergers Karrieren erschloss sich dann seine vielschichtige Bedeutung:

Im Herbst 1994 zählten die ehemaligen SS-Männer Bruno Beger und Heinrich Harrer in London zu insgesamt acht Gästen des Dalai Lama, um Tibets frühere Unabhängigkeit vor der Weltöffentlichkeit offiziell zu bezeugen. Das Foto wurde von der Exilregierung in der November/Dezember-Ausgabe 1994 ihres „Tibetan Bulletin“ sowie im Internet publiziert:

BILD FEHLT NOCH

London 1994: Der Dalai Lama mit „seinen“ Zeitzeugen für Tibets Freiheit – direkt
hinter ihm der ehemalige SS-Kriegsverbrecher Bruno Beger (links)
und Ex-SS-Oberscharführer Heinrich Harrer. Bild: http://www.tibet.com

Das österreichische Nachrichtenmagazin „Profil“ und die französische „Liberation“ unterstellten der tibetischen Exilregierung im Oktober 1997 „eine nicht gerade ausgeprägte Sensibilität, sich in ihrer Politik gegenüber Peking ausgerechnet auf ehemalige SS-Männer zu berufen“. Hugh Richardson, ehemals britischer Resident in Lhasa während der Schäfer-Expedition, ließ sich 1994 bei dem Treffen in London entschuldigen. Wenige Wochen später wurde der Dalai Lama von britischen und amerikanischen Journalisten auf seinen alten Freund und Lehrer Heinrich Harrer angesprochen. Seine Antwort zeigt, dass der tibetische „Gottkönig“ ein – um es freundlich zu formulieren – nicht gerade ausgeprägtes Interesse an zeitgeschichtlichen und politischen Themen hat. Noch dazu scheint der als Bodhisattva erleuchtete Exilpolitiker mehr als 60 Jahre nach Kriegsende noch immer keinen Unterschied zwischen Deutschland und Österreich zu machen:

„Natürlich wusste ich, dass Harrer deutscher Abstammung war – und zwar zu einer Zeit, als die Deutschen wegen des Zweiten Weltkrieges weltweit als Buhmänner dastanden. Aber wir Tibeter haben traditionsgemäß schon immer für Underdogs Partei ergriffen und meinten deshalb, dass die Deutschen gegen Ende der vierziger Jahre von den Alliierten genügend gedemütigt worden waren.“

Friedensfürst & Gaskammern?

Viele fragen sich, was denn daran so schlimm sei, wenn sich ein paar betagte Männer mit dem Dalai Lama vor die Kamera stellen und ein politisches Statement zugunsten Tibets abgeben? Interessant ist dabei die Frage, welche Rolle Bruno Beger 1943 bei dem „wissenschaftlichen“ Kriegsverbrechen spielte? Fakten zu Harrers Duzfreund: Mitwisserschaft beim Massenmord im Konzentrationslager Natzweiler-Struthof, rechtskräftige Verurteilung 1970, 86 Ermordete, mehrfache Treffen Begers mit dem Dalai Lama, herzliche Umarmungen des Friedensnobelpreisträgers; zuletzt 1994. Können Sie sich mehr als sieben Dutzend Menschen vorstellen, die jämmerlich in Giftgas ersticken? Es waren 29 Frauen und 57 Männer, die am 11., 13., 17. und 19. August 1943 in einer Spezialkammer knapp 60 Kilometer südwestlich von Straßburg in den Vogesen vergast wurden. Zuvor hatte die SS noch Röntgenaufnahmen von ihren 86 Schädeln gemacht und Blutgruppen bestimmt. Ermordet wurden sie vom Lagerkommandanten des KZ Natzweiler-Struthof. Dieser handelte auf Befehl des Straßburger Anatomen August Hirt, der das Vorhaben im Auftrag des „Ahnenerbes“ leitete. Die Jungwissenschafter und SS-Offiziere Beger und Fleischhacker fungierten als Helfer; auch bei folgenden Präparierungen von Skeletten und Totenköpfen. Die Gaskammer war 2,40 Meter breit, 3,60 Meter tief und 2,60 hoch. Es handelte sich um den Kühlraum des Hotels Struthof, der von SS-Medizinern ausschließlich für Giftgasexperimente umgebaut worden war.

Während der kanadische Historiker Michael Kater zu Beginn der siebziger Jahre die Rahmenbedingungen genau recherchierte, hat erst die jüngere Zeit mehr Licht auf die Details gebracht. Die hier beschriebenen Umstände des Massenmordes und alle Namen der Opfer verdanken wir aktuellen Forschungen des deutschen Historiker und Journalisten Hans-Joachim Lang. Dieser begann 1998 mit dieser komplizierten Recherche. Er publizierte Zwischenergebnisse in der Hamburger Wochenzeitschrift „Die Zeit“. Der Tübinger schrieb dazu ein empfehlenswertes Buch, das er ebenfalls 2004 publizierte: „Die Namen der Nummern“. Der Band ist das bisher einzige „Mahnmal“, weil er den Opfern die Namen und biografische Daten zurückgibt. Aus bisher völlig anonymen Angaben kristallisieren sich Lebens- wie Leidenswege heraus. Lang verhindert dadurch den doppelten Mord, das spurlose Verschwinden im diffusen Vergessen. Der deutsche Historiker bezeichnet die Machenschaften der SS-Experten als „eines der grausigsten Wissenschaftsverbrechen des Dritten Reiches“.

„Grausigstes Wissenschaftsverbrechen“

Ursprünglich hätten der damals 32-jährige Bruno Beger und sein 31-jähriger Kollege Hans Fleischhacker 1943 geplant, im Vernichtungslager Auschwitz 150 Jüdinnen und Juden zu selektieren, berichtet der kanadische Historiker Michael Kater in seiner Studie, die 1973 publiziert wurde. Sie konnten „nur“ 86 Menschen ins KZ Natzweiler-Struthof deportieren: „Ich nehme aufgrund meiner Recherchen an, dass sie bei 89 aufgehört haben, weil sie fürchteten, sich bei der im Lager herrschenden Fleckfieber-Epidemie anzustecken“, ergänzt Lang. 89 Personen wurden in die Quarantänestation von Auschwitz gebracht und mit einem Bluttest untersucht, ob sie frei von Fleckfieber waren. Bis zum Abtransport nach Natzweiler seien auf dieser Station drei Personen entweder verstorben, oder es habe andere Gründe gegeben, sie nicht mitzunehmen, so Lang. Ursprünglich war geplant, die Morde schon in Auschwitz durchzuführen. Wegen des Fleckfiebers musste das Programm nach Westen ins Elsass verlegt werden. Es ging den Wissenschaftern um charakteristische Schädel- und Skelettformen, die ihnen als Bestätigung des nationalsozialistischen Rassenwahns erschienen. Zudem plante der Anatom Hirt mit Knochen und Schädeln eine Art „Panoptikum“ und Museum für „Rassenkunde“. Einen weiteren Zweck ihrer Selektionen verrieten Beger und Fleischhacker knapp 30 Jahre später dem Frankfurter Landgericht: „Unterschiedliche anthropologische Techniken“ sollten für eine „rassenkundliche Expedition in den Kaukasus“ durch die Arbeiten „aufeinander abgestimmt“ werden, liest man in Gerichtsprotokollen von 1970. Bis heute ist nicht ganz klar, nach welchen Kriterien Beger und Fleischhacker die Opfer auswählten:

„Mir ist in Erinnerung“, berichtete Beger 1970 vor Gericht, „dass ich, als ich erstmals in meinem Leben im Konzentrationslager Auschwitz einer größeren Gruppe von Juden gegenüberstand, von der anthropologischen Vielgestaltigkeit überrascht war.“

KZ-Opfer „entfleischt“

Die Frauen und Männer wussten bis zum Schluss nicht, was geschah. Sie wurden von Auschwitz mit der Reichsbahn nach Natzweiler ins Elsass deportiert, eine Fahrt von drei Tagen und zwei Nächten. Eine Augenzeugin aus Auschwitz berichtet, schreibt Historiker Lang, die Selektierten hätte sich „voller Freude“ von Mithäftlingen verabschiedet, weil sie der Lüge glaubten, in ein besseres Lager zu kommen. Das war am 30. Juli 1943: „Wir haben nie wieder etwas von ihnen gehört“, so diese Zeitzeugin. Nachdem die Opfer in der Gaskammer bei Struthof ermordet waren, brachten SS-Männer die Leichen nach Straßburg zum Anatomie-Institut der Universität, wo Auftraggeber August Hirt als Professor residierte. Dieser hatte den französischen Zwangsarbeiter Henry Henrypierre zugeteilt, der Hilfsdienste leisten musste. Er sagte im so genannten „Nürnberger Ärzteprozess“ gegen SS-Mediziner aus. Henrypierre hatte sich die KZ-Häftlingsnummern der Toten genau notiert. Er versteckte diese geheime Liste, ehe er sie der US-Armee übergab. Mit Hilfe dieser Liste konnte Hans-Joachim Lang ab 1998 die Namen der Ermordeten genau dokumentieren. Er nutzte Datenbanken des Holocaust Museums in Washington DC sowie die Archive von Auschwitz und Jad Vaschem in Jerusalem. Über weitere komplizierte Recherchen ließen sich neben Namen auch Schicksale und Herkunft weitgehend klären. Lang berichtete 2004 in der Zeitschrift „Die Zeit“, dass 19 Frauen und 26 Männer aus Griechenland stammten, 23 Männer und drei Frauen aus Deutschland, sechs Frauen aus Belgien, vier Männer aus Polen, zwei aus den Niederlanden, zwei Männer aus Frankreich und einer aus Norwegen; das ergibt 86 Mordopfer.

Mörder auf der Flucht

Als amerikanische Truppen von Westen näher rückten, wurde im August 1944 von der Leitung des „Ahnenerbes“ der SS in Berlin beschlossen, die für kriegswichtig eingeschätzten Abteilungen der Universität Straßburg nach Tübingen zu bringen. Damit hatte Anatom August Hirt das große Problem, was er mit den vielen Leichen in seinem Keller tun sollte. Dies waren in einem großen Becken konserviert worden, das mit Formaldehyd gefüllt war. Untersuchung und „Verarbeitung“ war wegen der Kriegslage und Mangel an Material lange nicht vorangekommen. Die Rede war nun von rascher „Entfleischung“ der Knochen, um die Toten unkenntlich zu machen. Dann wäre allerdings das gesamte Forschungsprojekt sinnlos geworden, gab Wolfram Sievers in Berlin zu bedenken, der die Geschäftsführung im „Ahnenerbe“ bekleidete. Hans-Joachim Lang schreibt:

„Wie die meisten Mörder in Panik, so begannen Mitte oder Ende September 1944 auch Hirts Helfer, die Leichen unkenntlich zu machen. 70 Köpfe und vermutlich 55 Rumpfteile transportierten sie in Straßburg zum städtischen Krematorium. 16 unversehrte Leichen legten sie – `wie die Sardinen`, beschrieb später der Zwangsarbeiter Henry Henrypierre die grausige Aktion – in drei Bottichen nebeneinander, das Übrige vermengten sie mit Leichenresten, die in Lehrveranstaltungen der Universität verwendet worden waren.“

Am 23. November 1944 wurde Straßburg von amerikanischen Truppen aus den Händen der „Deutschen Wehrmacht“ befreit. Als die französische Militärjustiz mit ersten Recherchen begann, fanden deren Ärzte noch an 13 Leichen und an drei Leichenteilen die Tätowierungen aus Auschwitz. Sie schrieben diese Nummern in ihre Protokolle. Haupttäter und Auftraggeber August Hirt wurde am 23. Dezember 1953 vom französischen Militärgericht Metz wegen dieses Massenmordes in Abwesenheit zu Tod verurteilt. Zu diesem Zeitpunkt war der Anatom schon längst tot: Er hatte sich am 2. Juni 1945 in der Gegend von Schluchsee im Schwarzwald mit einem Schuss in den Kopf getötet. SS-Offizier Wolfram Sievers, Geschäftsführer des „Ahnenerbes“, der in dieses Verbrechen verstrickt war, wurde im „Nürnberger Ärzteprozess“ zum Tod verurteilt und am 2. Juni 1948 in Landsberg am Lech in Bayern hingerichtet.

Beger als Motor im „Ahnenerbe“

Aktuelle Forschungsergebnisse des deutschen Historikers Hans-Joachim Lang über Namen und Kurzbiografien der 86 ermordeten Jüdinnen und Juden von Auschwitz und Natzweiler finden Sie – didaktisch gut aufbereitet – im Internet. Wer noch zusätzliche Informationen liefern kann, sei hiermit zu Kontaktaufnahme und Mitarbeit eingeladen. Langs Website:

http://www.die-namen-der-nummern.de/

In Fall Beger gibt es ergänzende Forschungen des kanadischen Historikers Michael Kater, der sich in den siebziger Jahren die schriftlichen Gutachten genau ansah, die der SS-Anthropologe bei seiner Arbeit geschrieben hatte. Damit wollte Heinrich Harrers Duzfreund „enge stammesverwandtschaftliche Bindungen zwischen den minderrassigen Hottentotten und den Juden“ herausarbeiten, wie er wörtlich schrieb. Begers Ausführungen hätten selbst die Gutachten routinierter SS-Rassenfanatiker in den Schatten gestellt, schreibt Kater und zitiert 1973 aus einem früheren Gutachten Begers:

“Die Beziehungen zwischen den Hottentotten und nordafrikanischen sowie vielleicht auch vorderasiatischen Menschengruppen sind unverkennbar. Unter Jüdinnen sind mitunter auffallend starke Gesäßentwicklungen zu beobachten, die womöglich auf die gleiche fettsteißbildende Erbanlage wie bei Hottentotten und Buschmännern zurückzuführen sind. Im Judentum sind ja außer den Grundrassen (orientalisch und vorderasiatisch) auch Bestandteil der afrikanischen Rassen aufgegangen.“

Kater kommt in seiner Forschung zu dem Ergebnis, die „rassenkundliche Forschung“ im „Ahnenerbe“ der SS sei erst durch die tatkräftige Regie Begers so richtig vorangekommen. Dieser stand während des Zweiten Weltkrieges auch in Diensten des Berliner Völkerkundlers Wolfgang Abel. Dieser leitete ein anderes Forschungsprojekt im „Ahnenerbe“, das die, wie es hieß, „fortschreitende Ausschaltung der russischen Rasse“ zum Ziel hatte. Bevor Beger zu Abel kam, hatte dieser bereits 7.000 sowjetische Kriegsgefangene untersuchen lassen. Abel schlug vor, „sämtliche nordischen Typen Russlands zu germanisieren“ und den Rest nach Sibirien zu verbannen. Seinen Aufenthalt in Auschwitz nutzte Beger neben seinem Auftrag für den Straßburger Anatomen Hirt, „um ein eigenes Steckenpferd“ zu verfolgen, wie Kater berichtet. Es handelte sich um Begers Studium von sowjetischen Innerasiaten, oder wie er sie nannte: Mongolen. Von Innerasiaten konnte Beger im KZ Auschwitz unter Kriegsgefangenen der Roten Armee allerdings nur vier ausfindig machen. Dieses Interesse hatte auch mit seinem Faible für Tibeter zu tun. Michael Kater:

„Beger selbst hat über die von ihm in Auschwitz erfüllte privatwissenschaftliche Mission sehr plastisch Zeugnis abgelegt. In einem Brief an seinen Vorgesetzten Ernst Schäfer vom 24. Juni 1943 heißt es: `Über meine Auschwitzer Eindrücke muss ich Dir noch mündlich im Einzelnen berichten. Mein Kollege Gabel wird jeden Tag zurückkommen. Ich bin gespannt, ob er alle 26 Köpfe in der kurzen Zeit abformen konnte. Außerdem haben wir zwei Usbeken, einen usbekisch-tadschikischen Mischling und einen Tschuwaschen aus der Gegend von Kasan vermessen und abgeformt. Es handelt sich um sehr gute Typen, Übergangsglieder nach Inner- und Ostasien. Der eine Usbeke, ein großer gesunder Naturbursche hätte ein Tibeter sein können. Seine Sprechweise, seine Bewegungen und seine Art sich zu geben, waren einfach entzückend, mit einem Wort: Innerasiatisch. Der Tschuwasche ist meiner Einschätzung nach ein mehr chinesischer Typ.`“

„Manischer Sammeltrieb“

Kater nährt in seiner Studie von 1973 wegen mehrerer Indizien einen fürchterlichen Verdacht, der bisher nie erhärtet werden konnte. Bruno Beger könnte demnach diese sowjetischen Kriegsgefangenen in Auschwitz ermorden und skelettieren haben lassen. Folgt man Katers Indizienkette und seiner Einschätzung des manischen Sammeltriebes dieses Naturwissenschafters, dann wäre Beger, der gegen Kriegsende in Mittersill stationiert war, einer der gefährlichsten Forscher:

“Überaus verdächtig ist die Liste der Utensilien, die Schäfer für seinen Anthropologen Beger anforderte. Warum waren zu Schädelmessungen bei lebenden Personen 20 Stück Skalpelle verschiedener Größen und sechs Stück starke Skalpelle notwendig. Wurden sie bestellt, um an Leichen zu hantieren? Warum werden in Schäfers Liste fünf große Fleischmaschinen erwähnt. Handelte es sich hier um `Entfleischungsmaschinen`, von der Art, wie sie Hirt in Straßburg verwendete? … Und so selektierte Beger mit der liebevollen Sorgfalt eines Käfersammlers zwei Usbeken, einen usbekisch-tadschikischen Mischling und einen Tschuwaschen: eben jene vier Innerasiaten, von denen auch in einem Brief an Adolf Eichmann die Rede ist.“

Ab Februar 1943 wurden Stadt und Land Salzburg für leitende Experten im „Ahnenerbe“ der SS immer wichtiger. Neben der „Rassenforschung“ in Konzentrationslagern musste das von Schäfers Tibet-Expedition mitgebrachte Material aufgearbeitet werden. Dazu gab es in den Augen Himmlers keine besseren Standorte als das „Haus der Natur“ in der Stadt Salzburg sowie Schloss Mittersill im Salzburger Oberpinzgau. Im August 1943 übersiedelte der Zoologe und ehemalige Expeditionsleiter Ernst Schäfer mit seinem SS-Stab aus München nach Mittersill, wo das mittelalterliche Schloss auf dem Sonnberg nach einem Großbrand wiederhergestellt worden war. Hier im ehemaligen Österreich wurde nun ein SS-Institut für Tibet- und Innerasien-Forschung eingerichtet. Geplant war am Fuß der Gletscherwelt in den Hohen Tauern dazu noch eine elitäre Ausbildungsstätte für künftige Expeditionsteilnehmer, Bergsteiger und Spezialisten für Gebirgskampf. Eine weitere Außenstelle sollte auf Burg Hohenwerfen im Salzburger Pongau geschaffen werden; ein Plan, den die SS schon vor Beginn des Zweiten Weltkrieges hegte. Reichsführer Himmler hatte vor Heinrich Harrers Abreise zum Nanga Parbat (Frühjahr 1939) diesem die Leitung der künftigen Hochgebirgsschule Hohenwerfen angeboten. Belegt ist, dass der Anthropologe Bruno Beger eine Planstelle an der neuen Forschungsstelle Mittersill erhielt.

Totenschädel seit 1943 in Salzburg

Kaum 40 Kilometer nördlich von der Festung Hohenwerfen arbeitete in der Gauhauptstadt Salzburg der SS-Obersturmführer Eduard Paul Tratz, der sich die Künste der Biologie und Vogelkunde selbst beigebracht hatte. Tratz war Gründer und Leiter des örtlichen „Hauses der Natur“ und saß als Experte im persönlichen Stab von SS-Reichsführer Heinrich Himmler. Der Salzburger sah es ab 1943 als eine Hauptaufgabe, die von Schäfer, Beger und ihren Kollegen aus Tibet mitgebrachten Materialien im Rahmen seines Naturkundemuseums in der Salzburger Altstadt aufzuarbeiten und der Öffentlichkeit zu präsentieren. Ein brisantes Detail sei erwähnt, das mit Hirts Leichensammlung von Auschwitz-Opfern zu tun hat. Der Kanadier Michael Kater fand Hinweise, wonach ein Teil der von Hirt geplanten Präparate gegen Kriegsende doch noch fertig geworden sein könnte. Kater schreibt, ein Teil der Knochensammlung sei dann 1944 von Straßburg zum Schloss Mittersill gebracht worden; auch um diese Exponate der SS vor den alliierten Truppen in die „Alpenfestung“ der Nazis zu retten:

“Tatsächlich existierten gegen Ende Juni 1944 auf dem Schloss menschliche Totenköpfe … Am 23. Juni fragte der Anthropologe Dr. Rudolf Trojan bei Beger, der sich gerade bei seinem `Rassen-im-Kampf`-Studieneinsatz in Russland aufhielt, aus Mittersill brieflich an: `Was soll eigentlich mit den Judenschädeln geschehen? Wir haben sie hier herumstehen und verlieren nur Platz dadurch. Was war ursprünglich damit geplant? Ich halte es für das Vernünftigste, so wie sie sind wieder nach Straßburg zu schicken, die sollen dann sehen, wie sie damit fertig werden können.“

Gerald Lehner hat Bruno Beger 1997 auch auf die Forschung des Kanadiers angesprochen. Reaktion: „Was Kater betreibt, hat mit Seriosität und Wissenschaft nichts zu tun.“ Zu den von Kater aufgeworfenen Fragen über die vielen Skalpelle, wollte Beger nichts sagen. Es gibt noch ein Detail aus einem Buch über das Leben des britischen Schriftstellers Ian Fleming, den Autor der James Bond-Bücher. Diese Biografie erschien 1995. Flemings Abenteuer bilden die Grundlage der weltbekannten Filme. Der Brite hatte kurz nach Kriegsende einige Ferientage in der Salzburger Gemeinde Mittersill verbracht. Und dort hörte er, amerikanische Soldaten hätten im Schloss gerade eine Schädelsammlung der SS gefunden.

„Ein schrecklicher Mann“

2002 besuchte die kanadische Schriftstellerin Heather Pringle den 93-jährigen Bruno Beger in seiner Heimatstadt Königstein (Hessen). Sie sprachen auch über die 86 Morde und Begers gerichtlich festgestellte Mitwisserschaft, die dieser neuerlich vehement bestritt. Die Autorin verwendete das Material für ihr Buch „The Masterplan – Himmler`s Scholars and the Holocaust“. Es ist weltweit eines der wenigen Bücher über das „Ahnenerbe“ der SS und Grundlage künftiger Forschungen. Vor Pringle`s Recherche gab es kein einziges Buch über Himmlers „wissenschaftlichem“ Syndikat in englischer Sprache. Sie stützt sich neben eigenen Recherchen und anderen Quellen auch auf die bahnbrechende Arbeit von Michael Kater. Pringle schrieb dem österreichischen Journalisten Gerald Lehner am 21. August 2006 aus Vancouver ein E-Mail über ihre Eindrücke zu Bruno Beger:

„Dieses Interview war eine sehr beunruhigende Erfahrung für mich. Er ist nie bereit gewesen, die Wahrheit und die Konsequenzen zu akzeptieren – für das, was er in Auschwitz und Natzweiler getan hat. Ich glaube, dass er ein schrecklicher Mann ist.“

Heather Pringle berichtete von dem Besuch bei Beger in Königstein, zu dem sie ein deutscher Kollege begleitete. Nie zuvor habe sie einen 90-Jährigen erlebt, der körperlich so fit und geistig frisch war wie dieser ehemalige SS-Anthropologe. Beger habe sie freundlich empfangen. Er dominierte das Gespräch von Anfang an, erzählte euphorisch von Erlebnissen, Forschungen und Abenteuern während der Tibet-Expedition unter Ernst Schäfer, holte Fotos und Notizbücher hervor. Pringle beschreibt ihre mulmigen Gefühle, als Beger das Buch „Rassenkunde“ des berüchtigten Forschers Hans Günther von einem Regal holte. Stolz zeigte er seinen Besuchern eine Landkarte, die er als junger Student für den Rassisten Günther angefertigt hatte. Dann schwadronierte der Deutsche wie eh und je über seine Erkenntnisse, wonach die jüdische Rasse mongolische Ursprünge habe. Das hatte er schon in den dreißiger Jahren getan. Heather Pringle schreibt, dass Beger mit vielen Details aus seiner Erinnerung glänzte; eine dämonische Situation.

Ausreden

Die gute Stimmung im Hause Beger änderte sich schlagartig, als Pringle nach dem 86-fachen Mord fragen wollte. Beger wurde ziemlich schweigsam, äußerte sinngemäß, er habe seinen SS-Vorgesetzten Sievers und Hirt zu viel vertraut und sei ihnen wohl auf den Leim gegangen sei. Für viele, die sich historisch oder journalistisch mit solchen Leuten beschäftigten, klingt das vertraut – eine klassische Argumentationslinie von nationalsozialistischen Tätern, jede Verantwortung auf höhere Stellen oder Verstorbene bzw. Hitler oder Himmler abzuschieben. Er sei sogar sehr zornig gewesen, sagte Beger zu Pringle, als er mitbekommen habe, wozu Sievers und Hirt die Juden benötigten:

„Das war ein schlechter Scherz, dass ich in diese Sache hineingezogen wurde.“

Wesentlich mehr Zeit verwendete Beger, sich als Opfer der Justiz darzustellen. Pringle hatte den Eindruck, dass der Anthropologe sich als eigentlich Leidtragender sieht. Den Prozess habe ein jüdischer Anwalt angezettelt, sagte Beger – als ob das irgend etwas erklären würde. Seine Ausführungen seien voll des Selbstmitleides gewesen, kein Satz des Mitgefühls für die Ermordeten: „Es war eine schlimme Erfahrung, diesen Menschen aus nächster Nähe zu erleben.“

„Persilscheine“

Heather Pringle kennt die wichtigsten Details aus den Prozess-Akten von 1970. Beger war im April 1945 von amerikanischen Truppen in Italien geschnappt worden. In den Monaten zuvor hatte er Soldaten einer Division der Waffen-SS, bestehend aus muslimischen bzw. arabischen Legionären aus dem Nahen und Mittleren Osten, für eine Studie genau vermessen. Der Weg führte den Wissenschafter durch mehrere italienische und amerikanische Kriegsgefangenen- bzw. Internierungslager, wo er als belasteter NS-Funktionär eingestuft wurde. 1948 gab ihm ein deutsches Entnazifizierungskomittee den Persilschein als „minderbelastet“. Sogar Leute wie er – aus dem direkten Umfeld Himmlers – entkamen in diesen Jahren des kollektiven Vergessens mit Leichtigkeit näheren Untersuchungen der Justiz. Erst zwölf Jahre später interessierten sich Ermittler für den gebürtigen Heidelberger, der sich mittlerweile das Geld bei einem Schulbuch-Verlag und in der Papierindustrie verdiente. Das Spezialfach „Rassenkunde“ war Beger, dem sein Doktortitel wie anderen SS-Experten nie aberkannt wurde, an deutschen Universitäten mittlerweile abhanden gekommen. 1960 kam er für vier Monate in Untersuchungshaft, berichtet Heather Pringle. Schließlich wurde er auf freien Fuß gesetzt, doch einige Ermittler, Anwälte und auch ein Staatsanwalt setzten Recherchen fort.

1970 in Frankfurt rechtskräftig verurteilt

Der Prozess gegen Beger und seinen früheren Mitarbeiter Fleischhacker begann am 27. Oktober 1970. Die Wissenschafter dementierten jede Mitwisserschaft an den Morden hartnäckig. Zeugen und Dokumente aus dem „Ahnenerbe“ der SS sprachen eine andere Sprache: Schon 1941 hatte Beger mit seinem SS-Chef Sievers die Schaffung einer Sammlung von Skeletten bzw. Schädeln jüdischer Häftlinge besprochen. Das geht aus Sievers Tagebüchern hervor. Und dessen frühere Sekretärin hatte angegeben, das Beger den Hauptteil eines Briefes geschrieben habe. Mit diesem wurde eine Sammlung von „jüdisch-bolschewistische Menschenköpfen“ im „Ahnenerbe“ propagiert und empfohlen. Als es für Beger vor Gericht eng wurde, sagten Freunde und ehemalige Kollegen aus, der Wissenschafter sei sehr verstört gewesen, als er von den Mordplänen von Hirt und Sievers erfahren habe. Heather Pringle erwähnt in ihrem Buch das gesellschaftliche Klima, das noch 1970 während des Prozesses in Deutschland und Österreich herrschte. Es gab von Ehemaligen und jüngeren Rechtsradikalen sogar Demonstrationen und Leserbrief-Aktionen zugunsten Begers in der regionalen Presse. Pringle merkt an, dass damals 51 Prozent der Deutschen in Umfragen einer solchen Meinung zustimmten: Der Nationalsozialismus sei prinzipiell eine gute Sache gewesen, die nur schlecht ausgeführt worden sei. Wie erwähnt, erhielt Beger keine Verurteilung wegen Mordes oder Beihilfe sondern nur drei Jahre Haft wegen Mitwisserschaft, wobei ihm Internierung und Untersuchungshaft angerechnet wurden.

Gejammer und Judenhass

Als 2002 das Treffen von Pringle mit dem 90-Jährigen in Königstein zu Ende ging, jammerte Beger. Das Gericht habe ihm 1970 auch noch die gesamten Kosten aufgebrummt. Doch schon einen Moment später teilte er seinen Besuchern mit, das sei zwar vorerst ein schwerer finanzieller Schlag für seine Familie gewesen. Das Gericht habe jedoch bis zum heutigen Tag keine Rechnung zugestellt. Und Beger ergänzte, nachdem er sich ein breites Lächeln genehmigte: Sein Richter in Frankfurt am Main sei nämlich der Sohn eines deutschen Beamten gewesen, der 1942 an der Wannsee-Konferenz teilgenommen hatte, bei der die Abwicklung der so genannten „Endlösung“ konkret geplant wurde – die Vernichtung der europäischen Juden. Pringle bekennt in ihrem Buch, sie habe nach diesem Treffen eine Nacht lang mit Schlafstörungen gekämpft.

Solche Gefühle hatte Gerald Lehner bei Gesprächen mit Beger nicht. Zuvor hatte Beger den Journalisten in Briefen mit viel Material versorgt, hatte offenbar auch freundschaftliche Gefühle entwickelt; zumindest eine Art von Vertrauen. Lehner hatte das auch provoziert, war immer sehr freundlich zu dem Anthropologen und früheren SS-Offizier, gab sich naiv, auch um mehr über Begers Freund und SS-Gefährten Heinrich Harrer herauszubekommen. Bei einem Treffen wäre die Lage allerdings fast eskaliert. Beger hatte im Gespräch mit Lehner – 52 Jahre nach Kriegsende – ungeniert begonnen, über Juden und ihren miesen Charakter herzuziehen – mit einem Foto seines alten Freundes Dalai Lama in der Hand. Beger war – nach eigener Darstellung – „immer nur ein fanatischer Wissenschaftler“.

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