Tote in Spiritus

Mehr als 50 Jahre lang wurden im Salzburger „Haus der Natur“ von SS-Obersturmbannführer Eduard Paul Tratz und seinem Nachfolger als Museumsdirektor, Eberhard Stüber, die Leichen schwer missgebildeter Babys in Spiritusgläsern ausgestellt.  Der Wiener Arzt, Neuropsychiater und Universitätsprofessor Ernst Berger kritisierte 2003 in einem Gutachten für die Salzburger Landesregierung das „Haus der Natur“ und seine subtile Museumspolitik scharf. Er forderte schon damals eine umfassende Aufarbeitung – nicht nur der NS-Vergangenheit. Für das Museum verantwortliche Politiker von ÖVP und SPÖ ließen Bergers Gutachten an die zehn Jahre lang nicht zum Gegenstand öffentlicher Diskurse werden.

Stüber ließ die Leichenschau der Kinder stillschweigend entfernen. Immerhin hatte auch die Salzburger Bürgerliste (Grüne) nach unseren Berichten und Recherchen als erste politische Gruppierung überhaupt Druck auf die Stadtpolitik ausgeübt und Erklärungen von SPÖ und ÖVP verlangt sowie Anträge im Stadtparlament gestellt, unangenehme Fragen gestellt. Dieses schwierige Thema ist nur ein Einzelbereich eines viel tieferen Grundproblems dieses Biotops. Erst in jüngster Zeit gibt es im HDN – nach öffentlichem und journalistischem Druck über Jahre – neue Ansätze bzw. Versuche von Aufklärung.

In Spiritus präparierter Tiefseefisch. Bild: Pengo / wikipedia.org
In Spiritus präparierter Tiefseefisch. Bild: Pengo / wikipedia.org

“Ich hab schon als Volksschulkind
die Wasserkopfgläser entsetzlich gefunden,
nicht so sehr die Wasserköpfe selbst, sondern,
dass tote Kinder in Gläsern zur Schau gestellt werden …“

Reaktion der Medien-, Kommunikations- & Kulturwissenschafterin Dagmar Baumgartner von der Uni Salzburg auf dieses Blog hausdernatur.wordpress.com in Facebook.

Die Schau der toten Kinder hat mehrere Generationen geschockt, interessiert und abgestoßen. Spricht man mit Zeitzeugen und Museumsbesuchern, dann berichten viele, sie hätten sich immer schon intuitiv gefragt, was denn in diesem Museum eigentlich vor sich gehe? Berichtet wird von einem dumpfen Unbehagen, auch beim Betrachten der so genannten „Rassenköpfe“ samt Erklärungstexten (pseudowissenschaftlicher NS-„Rassen“-Propaganda), die Museumsdirektor Tratz unter den Augen der Salzburger Politik noch Jahrzehnte nach 1945 in seinem Haus beließ. Sein Nachfolger Stüber ließ diese Zeugnisse nationalsozialistischer Menschenbilder – unkommentiert – noch in den 1990er-Jahren zeigen.

Der Neuropsychiater Ernst Berger kritisierte 2003 in seinem wissenschaftlichen Gutachten, die Schau der toten Kinder im Salzburger „Haus der Natur“ transportiere – unkommentiert und unreflektiert – die rassistischen Menschenbilder des frühen 20. Jahrhunderts. Der Wiener Experte forderte seit langem, dass im „Haus der Natur“ die Geschichte der Institution und seine Rolle in der nationalsozialistischen Propaganda endlich ausführlich und selbstkritisch dargestellt werden sollte. Resultat von Bergers Gutachten: Der frühere Museumsdirektor Stüber ließ Mitte der 2.000er-Jahre die Spiritusgläser mit den Kinderleichen stillschweigend nach Wien bringen, wo sie in einem wissenschaftlichen Fundus verschwanden. Einschlägige Aktivitäten und Projekte des Museumsgründers Eduard Paul Tratz im Nationalsozialismus waren kein versehentlicher „Betriebsunfall“, der sich auf die nationalsozialistische Ära beschränkt hätte. Der Salzburger Naturforscher war und ist ein Held vieler Herrscher und naturwissenschaftlicher Fachkollegen. Das dokumentieren Entwicklungen und Publikationen im Land Salzburg bis in die jüngere Vergangenheit.

Ab 1940 für SS-Ziele im Einsatz
Die Sammlung menschlicher Missbildungen in Spiritusgläsern übernahm Museumsdirektor Tratz in der Zwischenkriegszeit und im Austrofaschismus (vor Hitlers Einmarsch und „Anschluss“ Österreichs im Frühling 1938) aus älteren Beständen des früheren Landesmuseums in Salzburg. Dazu wurden – offenbar im 19. Jahrhundert natürlich verstorbene – Kinder mit schwersten körperlichen und geistigen Behinderungen konserviert. 1940 wurde dieses Panoptikum für die Ziele der SS in die Museumsabteilung „Der Mensch“ eingegliedert – Unterkategorie: „Sexual-Biologie und Embryologie“. Nur erwachsenen Besuchern war der Zutritt in den Schauraum erlaubt. Dazu gab Museumsdirektor Tratz – der mittlerweile als Nationalsozialist und SS-Offizier die Ermordung von Behinderten offensiv propagierte – eine Sonderschrift seines Museums heraus: „Irrwege des Lebens – Abnormitäten und Monströsitäten des Hauses der Natur“. Hier sah der Mann nicht, dass er mit diesem Titel unbewusst auch sein eigenes Museums als monströs einstufte. Und natürlich machte Tratz viel Geld mit dieser Schau. Sie entwickelte sich zum Publikumsmagneten für nationalsozialistische und andere Gaffer.

Mit den toten Kindern in Spiritus ließ sich einerseits der Voyeurismus des Publikums und die Gier des Sonntagsausflüglers nach Außergewöhnlichem befriedigen. Und Tratz „rettete“ seine Sammlung nach dem Zweiten Weltkrieg unter dem Schutz der Salzburger Landespolitik und stellte sie weiter in einem eigenen Raum aus. Zutritt verboten für Kinder, hieß es.

Politik tatenlos
Viele erinnern sich, wie sie sich dennoch schon als Volksschüler sensationshungrig in dieses Kabinett schummelten und die Leichen der Babys ansahen. Als Tratz 1977 starb, übernahm sein Nachfolger und Schüler Stüber diese Sammlung unverändert – ein Biologe und Pädagoge. Damals unterrichtete Stüber noch an der Pädagogischen Akademie Salzburg. Er bildete Lehrer aus. Später wurde der Multifunktionär noch Landesumweltanwalt der Salzburger Landesregierung. In den 1990er-Jahren gab es erste Proteste von Museumsbesuchern gegen das Panoptikum missgebildeter Kinder – unter anderem von der Kommunikationswissenschafterin, Kunsthistorikerin und heutigen Grünen-Politikerin Gabriela Paumgartner und von dem Journalisten Gerald Lehner. Nicht nur für diese war es unfassbar, was hier unter den Augen von Politik und Öffentlichkeit eines demokratischen Staates geschah. Museumsdirektor Stüber sah weiter keinen Grund zum Handeln. Mit der Nazizeit habe das alles nichts zu tun, ließ er verlauten, als kritische Leserbriefe in Zeitungen erschienen. Museumsgründer Tratz habe diese Sammlung in der Zwischenkriegszeit angelegt, wo es bekanntlich noch keine Nazis an der Macht gegeben habe, so der promovierte Biologe Stüber.

Für die Salzburger Landespolitik als Subventionsgeberin des „Hauses der Natur“ bot das einmal mehr eine Gelegenheit zur Tatenlosigkeit – nach außen hin. Niemand schritt öffentlich sichtbar ein. Hinter den Kulissen wurde vom Salzburger Landtag eine „Arbeitsgruppe“ gegründet, die sich mit dem Thema befassen sollte. Wie so oft bei Problemen dieser Art, vertrauten österreichische Politiker den taktischen Vorgaben und Stromlinien ihrer Parteien. Man hat rechte Ränder und den rechten Sumpf des politischen Spektrums immer im Auge und richtet Fähnchen nach dem Wind, um auch in diesen Biotopen nach Wählern fischen. Erstaunlicherweise wurde 2002 dann doch noch ein Experte vom Salzburger Landtag eingebunden – dieses Mal ein Meister seines Faches, der nicht zu Freundeskreisen und (auch parteipolitisch vernetzten) Gruppen von Experten in Stadt und Land Salzburg gehört. Dass die Vorschläge und Forderungen von Ernst Berger aus Wien dann doch wieder verhallen würden, das war für Kenner von Salzburger Szenen damals allerdings schon zu befürchten. Und so kam es auch.

Lösungsvorschläge ignoriert?
Der Neuropsychiater, Arzt und Universitätsprofessor Ernst Berger vom „Zentrum Rosenhügel“ in Wien erstellte 2003 für Landtag und Landesregierung intern ein erstes Gutachten. Berger war von der Politik zur Verschwiegenheit verpflichtet worden. Dennoch wurde dem Salzburger Journalisten Gerald Lehner dieses Gutachten Bergers aus Kreisen von christlich-katholischen Behindertenpädagogen zugespielt. Lehner publizierte es unter anderem in seinem Buch: „Zwischen Hitler und Himalaya. Die Gedächtnislücken des Heinrich Harter“ (erschienen 2007 in Czernin Verlag, Wien), in dem es auch um das „Haus der Natur“, seine bis heute dort vorhandene Tibetschau der SS, Heinrich Himmler und den Kriegsverbrecher Bruno Beger geht, der mit dem Salzburger Museumschef Eduard Paul Tratz eng kooperierte.

Das Gutachten des Neuropsychiaters Ernst Berger hatte der Salzburger Landtag unter Ausschluss der Öffentlichkeit angefordert. Der Wissenschafter geht darin mit dem Salzburger „Haus der Natur“ hart ins Gericht: Die Salzburger Sammlung der missgebildeten Kinder in Spiritus entspreche einem „biologistischen Konzept der Wissenschaften vom Menschen“, das diesen auf seine biologischen Aspekte reduziere: „Dieses Menschenbild hat sich am Anfang des 20. Jahrhunderts mit rassistischen Konzepten als dominierende Sichtweise etabliert. Es hat in Verbindung mit dem Nationalsozialismus einen wesentlichen Beitrag zur systematischen Tötung behinderter und psychisch kranker Menschen bis zur Isolierung und Tötung von Angehörigen sozialer Randschichten geleistet.“

– Zahlreiche – vorwiegend naturwissenschaftliche – Institutionen hätten ihre Beteiligung an dieser Art von „Wissenschaft“ und die Herkunft von Präparaten, die teilweise von Mordopfern stammen, viele Jahrzehnte verschwiegen, schreibt Berger.

– Es sei daher legitim, derartige Institutionen zur Prüfung und Offenlegung ihrer Bestände zu veranlassen. Das sei auch im Salzburger „Haus der Natur“ unabdingbar.

– Der Salzburger Museumsdirektor Stüber hatte im Vorfeld eingewendet, die missgebildeten Kinder in der Salzburger Sammlung von Tratz seien zu „Forschungszwecken“ nützlich und sollten weiter in seinem Haus zu sehen sein. Berger entgegnet, ein Nutzen dieser historischen Präparate für die heutige Wissenschaft sei auszuschließen.

– Dann geht der Experte auf die Frage ein, ob man die Präparate weiter ausstellen solle? Er argumentiert vehement dagegen, denn dies entspreche genau dem biologistischen Wissenschaftskonzept, das er bereits am Beginn seiner Stellungsnahme kritisiert habe.

– Wenn man Missbildungen darstelle, sei heutige Didaktik mit Computer-Simulationen historischen Präparaten vorzuziehen. Und Berger schlägt vor, dass längst „moderne Bildtechniken das Präparat prinzipiell ersetzen können“.

– Der Neuropsychiater und Arzt erläutert in seiner Stellungnahme auch den Vorschlag, man könnte die Salzburger Sammlung als eine Art Denkmal etablieren. Die Erhaltung als Dokument früherer Sichtweisen von Behinderung sei prinzipiell zu erwägen, schreibt Berger. Wer immer das mache, müsse eine grundsätzliche Neugestaltung verbinden: “Moderne Museumsdidaktik, sozialhistorische Aufbereitung, Erklärung und Kritik des biologistischen Menschenbildes, Herstellung zu aktuellen Bezügen im Leben behinderter Menschen“ seien unbedingt zu berücksichtigen.

– Der Universitätsprofessor wendet sich gegen einen Vorschlag, den Museumsdirektor Stüber dem Salzburger Landtag übermittelt hatte, die missgebildeten Kindern einer genauen Altersbestimmung zu unterziehen. Damit sollte laut Direktor Stüber ausgeschlossen werden, dass die Schaustücke aus der Zeit zwischen 1938 und 1945 stammen würden – aus der nationalsozialistischen Ära in Österreich. Man erhoffte sich dadurch einen Persilschein. Gutachter Berger weist diese Strategie des „Hauses der Natur“ zurück: „Eine verkürzte Vorgangsweise, die sich auf die Altersbestimmung beschränkt und im Übrigen alles so belässt wie bisher, findet nicht meine Zustimmung.“

Schweigen
Diese Stellungnahme des Neuropsychiaters, der damals auch in der Ethik-Kommission der österreichischen Bundesregierung saß, an die Arbeitsgruppe des Salzburger Landtages ist mit 8. Mai 2003 datiert. Der Landtag, die Politiker von SPÖ und ÖVP in der Landesregierung sowie die Leitung des „Hauses der Natur“ haben es unterlassen, diese Vorschläge von Berger der Öffentlichkeit zugänglich zu machen bzw. eine öffentliche Diskussion zu fördern. Es gab und gibt dazu keine Presse-Erklärungen des Landes Salzburg oder des „Hauses der Natur“ oder andere offizielle Erklärungen. Letzter Stand: Die Salzburger Schau mit den Missbildungen wurde nach internem Druck der Landespolitik geschlossen und die toten Kinder in ihren Spiritusgläsern zu einem naturwissenschaftlichen Depot nach Wien gebracht.

Der Salzburger Journalist Gerald Lehner hatte drei Jahre zuvor in einem Leserbrief an die „Salzburger Nachrichten“ den Vorschlag gemacht, die Kinder zu begraben und ihnen nach Jahrzehnten der kommerziellen Nutzung durch das „Haus der Natur“ und des Begaffens durch Hunderttausende Museumsbesucher die Totenruhe zu gewähren – verbunden mit christlichem Andenken. Hätte der Salzburger Museumsdirektor Eberhard Stüber den Vorschlag des Wiener Experten Berger aufgegriffen und die Behindertenpolitik der Nationalsozialisten samt ihrer Vernichtung von „lebensunwertem Leben“ interdisziplinär aufgearbeitet, dann wäre unweigerlich die Geschichte des „Hauses der Natur“ zum ergänzenden Thema geworden. Und mit ihr eine kritische Biografie seines Gründers Eduard Paul Tratz. Dazu hätte Stüber auch seine Rolle als Schüler von Tratz und seine eigene Museumspolitik näher erklären müssen, die er über Jahrzehnte betrieben hat. Jede „Aufarbeitung“ der Geschichte des Museums muss sich daran messen lassen, wie sie mit diesen Spannungsfeldern und Themen umgeht. Längst ist Museumsgründer Tratz nicht das Hauptthema der Angelegenheit. Manche sagen Skandal dazu.

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